Luftsprünge

„Luftsprünge“

27. März 2024

Einleitung

Offensichtlich verbunden und doch so fern… Atemarbeit und Frauentag! Die Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert befreien sich von ihren Korsagen und den gesellschaftlichen Zwängen. Sie entdecken ihre Körper und sich als Individuen, gehen in die Fabriken und werden Teil der „arbeitenden“ Bevölkerung. Sie sind nicht mehr nur Hausfrau und Mutter und leisten einen Beitrag für das Familieneinkommen und die gesellschaftliche Wertschöpfung. Sie schlüpfen aus den ihnen von den Männern auferlegten überkommenen Rollen und definieren sich als Frau und Arbeitskraft für die Gesellschaft neu. Frauen, die aufstehen und sich für ihre Rechte und Bedürfnisse einsetzen. Aus diesen frühen Anfängen der Emanzipation entsteht eine Gymnastikbewegung. Diese entwickelt sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter und wird schließlich zur Atemarbeit. Ilse Middendorf wird die Grand Dame der Atemarbeit in Deutschland.

 

Frauentag, was ist das?


Ich gebe es ungern zu, aber bis ich 31 Jahre alt bin, habe ich keine Ahnung! Frauentag, war in meiner Familie nie ein Thema. Darüber werde ich nochmal nachdenken müssen. Es folgt also in Kürze eine Reflektion dazu.

 

Meine erste Begegnung mit dem Frauentag!


Ich stehe in einem kleinen weißen, einfachen Büro ohne Fenster und arbeite am Computer im Internet. Zu diesem Zeitpunkt, ich spreche vom Sommer 1998, ist das keine Selbstverständlichkeit, jedenfalls nicht in Vietnam. Aber auch sonst nirgends auf der Welt, glaube ich. Das Internet ist neu und das Schreiben von E-Mails auch. Ich bin privilegiert, weil ich nicht ins Internetcafé um die Ecke des Goethe-Instituts in Hanoi laufen muss. Ein neues Zeitalter ist angebrochen – das der digitalen Revolution. Genau wie damals vor 100 Jahren die industrielle Revolution.

Alles ist in Bewegung und fließt, entwickelt sich, wächst und vergeht wieder oder wird selbstverständlich. Meine beiden 22 und 23 Jahre alten Söhne sind immer etwas verstört, wenn ich ihnen davon berichte, dass es ein Zeitalter vor dem Internet gab. Für sie und ihre FreundInnen ist ein Leben ohne Handy und Internet schlicht nicht vorgesehen. So, wie es vor 100 Jahren neu und für viele unvorstellbar war, dass Frauen eine andere als die ihnen von der Gesellschaft vorbestimmte Rolle übernehmen. An diesem Morgen im weißen Büro öffnet sich nicht nur eine Türe, sondern eine ganz neue Betrachtungsweise, ein neues „Selbstverständnis“ für mich. Herr Dr. Winterscheidt, der Direktor des Goethe Instituts Hanoi steht plötzlich im Büro. Begleitet wird er von seinem Mitarbeiter Than Mingh, eigentlich der Hausmeister des Instituts, aber letztlich viel mehr als das, nämlich die zentrale Instanz für Organisation und Beschaffung, von was auch immer – einfach die gute Seele des Instituts. Er und Herr Dr. Winterscheidt stehen da mit vielen roten Rosen im Arm und jede von uns Damen bekommt eine in die Hand gedrückt. Ich hab keine Ahnung, was passiert. Völlig überrascht höre ich das erste Mal den Satz, „Alles Gute zum Frauentag“. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein Frau-sein niemals auf diese Weise gefeiert worden. Ich hatte überhaupt keine Beziehung zu diesem Begriff und welche Bedeutung er hat. Dieses Erlebnis im Institut war eines von ganz vielen tollen Erlebnissen während meines Praktikums, aber nachhaltig verändert hat es zunächst nichts und auch noch ganz viele weitere Jahre nicht. Ich hatte es einfach lange wieder vergessen.

 

„Luftsprünge“


Bezug zum Frauentag bekam ich erst, als ich anfing, mich für den Atem zu interessieren. Mir begegneten viele inspirierende Bücher von Frauen, wie „Die Atemlehrerin“, ein Buch über Carola Spitz, die aus Berlin floh um die Achtsamkeit nach New York zu bringen oder das Buch „Luftsprünge“ von Karoline von Steinaecker über die frühen Anfänge der modernen Körpertherapien, aber auch die Biografie von Elsa Gindler oder das Buch „Der Erfahrbare Atem“ von Ilse Mittendorf. Das war meine Inspiration.

Mit der Befreiung der Frauen von den Korsagen entstand eine großartige Bewegung. Frauen wie Elsa Gindler, Carola Spitz, Hedwig Kallmeier, Clara Schlafhorst, Hedwig Andersen und auch Ilse Mittendorf, um nur ein paar zu nennen, fingen an, ihre Körper zu entdecken, sich aus der eng geschnürten gesellschaftlichen und sozialen Ordnung zu befreien und sich ihren Raum zu nehmen. Die Männer dominierte Gesellschaft erlaubte das nur unter der Maßgabe, dass Frauen sich um ihre Gesundheit kümmern sollten, damit sie stramme, gesunde Buben (wenn es denn sein musste auch mal Mädchen) zur Welt bringen könnten.

Was sich aus diesen frühen Anfängen von Gymnastik, Bewegung und Freikörperkultur entwickelt hat, sind heute die zahlreichen Formen von Körperarbeit und Körpertherapie.

 

Resümee


Auch wenn es lange gedauert hat, bis ich den Frauentag und die damit verbundene Bedeutung für mich entdeckt habe, so arbeite ich heute wahnsinnig gerne mit und für Frauen. Ich unterstütze sie dabei, die immer noch in der Gesellschaft vorhandenen rigiden Vorstellungen davon, was eine Frau heutzutage ausmacht zu überdenken. Dabei ist mir wichtig, dass sie alle Facetten ihres Seins zum Ausdruck bringt.

Auch Männer, die in meine Praxis kommen, lernen sich auf eine besondere Art und Weise zu spüren und wahrzunehmen. Sie haben erlebt, dass ihre bisherigen Problemlösungsstrategien, nämlich überwiegend zielgerichtet und leistungsorientiert zu sein, nicht mehr funktionieren und daher auf unterschiedlichsten Ebenen zu Konflikten führen, auch im privaten und partnerschaftlichen Kontext.

Wir brauchen dringend einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, weil wir Strukturen und Systeme erschaffen haben, die nicht adäquat den heutigen Herausforderungen begegnen können.

Also, keine Befehlsempfänger mehr, sondern Menschen, die sich spüren und selbstverantwortlich unsere Gemeinschaft mitgestalten wollen.

Nur Menschen, die sich spüren, können sich ihrer Bedürfnisse bewusst werden und eine gute Kommunikationsfähigkeit entwickeln. Es gilt die Kreativität vieler Menschen auf Augenhöhe miteinander zu verbinden, um die Probleme dieser Welt zu lösen.